Standpunkte 4/2019

Fotos: Christian Augustin werden. Dafür dient die aus dem HR-4.0-Projekt ent- wickelte Learning & Exploration Factory (LEF). Deren Projektleiter, Jens Gärtner, erläutert die „Brückenfunk- tion“ der LEF zwischen der Forschung und den opera- tiven Aktivitäten in der Fertigung: „Wir ermöglichen den nutzerspezifischen Zugang zu neuen Technologien, Robotik-Anwendungen und innovativen Arbeitsweisen in einem neuen Lernumfeld. Dies stellt sowohl einen Mehrwert für Azubis als auch für langjährige Beschäf- tigte dar.“ Der Airbus-Anwendungsfall des auf drei Jahre ange- setzten NAWID-Projekts in der LEF ist die sogenannte Mixer Unit, das Rohrleitungssystem für die Luftversor- gung in Flugzeugen. Neue Mitarbeiter benötigen rund sechs Monate, bis sie die einzelnen Fertigungsschritte selbstständig beherrschen. Das Projekt zielt unter ande- rem darauf ab, diese Anlernphasedeutlich zu verkürzen – durch den Einsatz eines KI-basierten Assistenz- und Wissensdienstes. Dieser soll unterstützende Inhalte beispielsweise über sogenannte Smart Devices nutzer- spezifisch, kontextbezogen und in Echtzeit zur Verfü- gung stellen. Darüber hinaus testet Airbus die KI-gestützte „Sta­ tionCam“ in der Endmontagelinie: Vier bis fünf Kame- ras werden auf die Station gerichtet, an der das Seiten- leitwerk auf den Flugzeugrumpf montiert wird. Sie er- kennen Fertigungsmittel, Ladungsträger und Bauteile. Ziel ist es, Materialflüsse transparent zu machen, den Arbeitsfortschritt zu dokumentieren und Störungen im Produktionsablauf frühzeitig zu erkennen, um schnell gegensteuern zu können. Der NAWID-Partner Syner- geticon aus Finkenwerder hat die Bilderkennung so auf- gesetzt, dass die KI den Produktionsstatus zwar ständig analysiert, die an dem Bauplatz arbeitenden Mitarbei- ter filtert sie jedoch in Echtzeit aus den Videobildern heraus. Das gewährleistet den Datenschutz und gibt den Mitarbeitern zugleich die Sicherheit, dass es nicht darum geht, ihre Arbeit zu kontrollieren, sondern den Produktionsprozess zu verbessern. Herausforderung: Datenqualität Damit künstliche Intelligenz den Menschen tatsäch- lich entlastet und Anwendungen fehlerfrei funktionie- ren, benötigen solche Systeme eine sehr große Menge an verwertbaren Daten. Doch daran hapert es derzeit noch – vor allem in Deutschland mit seinen vergleichs- weise strengen Datenschutzregeln. Eine Umfrage der Fachzeitschrift „Computerwoche“ ergab Anfang dieses Jahres, dass sich mehr als ein Drittel der befragten Ent- scheider über die mangelnde Qualität der Input-Daten den Kopf zerbricht. 30 Prozent halten zudem den der KI zugrundeliegenden Algorithmus für zu wenig transpa- rent. Dennoch plant rund ein Drittel der befragten deut- schen Unternehmen, sich im Laufe dieses Jahres inten- siver mit künstlicher Intelligenz und Machine Learning zu beschäftigen. Bei BAADER in Lübeck hat man dieses Thema bereits seit mehr als zwölf Jahren auf dem Schirm, nicht nur im sprichwörtlichen Sinne. Seit 2016 beschäftigt sich der Maschinenspezialist für Lebensmittelverarbeitung intensiv mit KI und hat seine Röntgeninspektionsma- schinen entsprechend aufgerüstet. Mittels intelligenter Bilderkennung spürt das System automatisch Knochen und Gräten in Hühner- und Fischfilets auf – und leitet die betroffenen Stücke zur manuellen Kontrolle zurück. Auf diese Weise prüfen die BAADER-Maschinen mitt- lerweile 200 Hühnerfilets pro Minute. „Unsere Entwicklungsabteilung hat den Anstoß dazu gegeben, KI einzusetzen“, berichtet Thomas Raths, Ab- teilungsleiter Vision Technology Control Systems bei BAADER. Ziel war es, den Prüfprozess zu beschleuni- gen. Auch für Raths und sein Team ist die Datenlage herausfordernd. Zunächst mussten hunderte Röntgen­ aufnahmen von verknöcherten Filetstücken gesam- melt und die kritischen Merkmale von Hand markiert werden. Auf dieser Basis konnten Algorithmen entwi- ckelt werden. Raths: „Röntgenbilder sind schon für die meisten Menschen schwer zu bewerten. UmMaschinen schnell darauf zu trainieren, wäre eigentlich eine noch viel größere Menge an Aufnahmen nötig.“ Mit etwas mehr Zeit hat es auch so geklappt. Im Austausch mit den Kunden und den Erkenntnissen aus dem laufenden Betrieb werden die intelligenten Maschinen kontinu- ierlich weiter verbessert. „Vorsichtiger Schrittgeber“ Mit „gebremster Euphorie“ blickt Michael Schulz, Ge- schäftsführer des Marineausrüsters Raytheon An- schütz, auf das Thema KI. Im Konsortium mit dem Ol- denburger OFFIS-Institut für Informatik, Airbus und weiteren Partnern erforschen die Kieler ein intelligen- tes Kollisionsvermeidungssystem namens MTCAS. Ge- meinsames Ziel ist es, mit neuen Situationsanalysen die Schifffahrt sicherer zu machen und über zunehmende Automatisierung letztlich die Voraussetzung für auto- nom fahrende Schiffe zu schaffen. Von Letzterem sei man noch weit entfernt, so Schulz. Außer technolo- gischen Herausforderungen wie dem Annotieren von Radarbildern fehlt es noch an Kundenakzeptanz, Re- gelwerken und Zulassungskonzepten. „Deshalb nähern wir uns der autonomen Schifffahrt über einzelne in- telligente Assistenzsysteme wie MTCAS“, sagt Schulz. Das unternehmensinterne KI-Know-how baut Raytheon Anschütz seit mehreren Jahren über Kooperationen mit Hochschulen gezielt auf. Als „vorsichtigen Schrittge- ber“ bezeichnet Schulz sein Unternehmen. „Denn wenn wir uns nicht mit Digitalisierung und KI beschäftigen, machen das sicherlich ganz schnell branchenfremde IT-Firmen“, sagt Schulz. Gemeinsam mit weiteren Vertreterinnen und Vertre- tern der norddeutschen Metall- und Elektroindustrie sowie hochkarätigen Gästen wird der Raytheon-Ge- schäftsführer zu KI, Digitalisierung und wie sie den Norden revolutionieren werden, beim traditionellen Martinsgansessen von NORDMETALL e. V. diskutieren (siehe Kasten). Welche Bilder Referenten und Gästen dann vor Augen stehen, dürfte auch ein wenig in der Hand von Arnold Schwarzenegger liegen: Ende Oktober kommt der neueste „Terminator“-Film in die deutschen Kinos und zeigt einmal mehr den Kampf zwischen Mensch und Maschine. Birte Bühnen Datenschutzkonforme Prozessoptimierung: Mittels intelligenter Bilderfassung erkennt die StationCam von Synergeticon Werkzeug und Material, filtert jedoch Personen aus dem Videostream. Lotet die Chancen von KI und technologischem Wandel für die Schifffahrt aus: Michael Schulz, Geschäftsführer Raytheon Anschütz. Autonom fahrender Transport-Roboter: Lasten von bis zu 50 Kilogramm kann das Vehikel zu vorher definierten „Bahnhöfen“ bewegen. Derzeit wird das Shuttle in der LEF von Airbus in Hamburg-Finkenwerder und im Airbus-Werk in Bremen getestet. Foto: Raytheon Anschuetz Martinsgans goes digital Künstliche Intelligenz und technologischer Wandel sind auch Themen des 42. Martinsgansessens, das NORDMETALL am 14. November 2019 im Hotel Grand Elysée Hamburg veranstaltet. Unter dem Titel „Wie Digitalisierung Gesellschaft und Industrie im Norden revolutioniert“ diskutiert Dr. Carsten Brosda, Senator für Kultur und Medien der Freien und Hansestadt Hamburg, nach seinem Impulsvortrag mit Daniel Friedrich (IG Metall Küste), Sonja Neubert (Siemens AG) und Michael Schulz (Raytheon Anschütz GmbH). 16 4/2019 Standpunkte NORDMETALL 17 4/2019 Standpunkte NORDMETALL

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