Standpunkte 2/2019
fangen, nicht mal mit Mehrarbeit und Über- stunden. Stowasser: Das ist weniger das Thema Schichtplanung, sondern der Bereich Grundauslastung. Drei Acht-Stunden- Schichten in sieben Tagen bei 100 Prozent Auftragsauslastung ohne geeignete Reser- veplanung führen bei wachsendem Auf- tragseingang natürlich zu Problemen. Das kann unternehmerischer Weitblickmit stra- tegischem Kapazitätsaufbau verhindern. Standpunkte: Welche Tendenzen sehen Sie in denM+E-Unternehmenmit Schichtarbeit, seit die neuen Flexibilisierungsmöglichkei- ten des Tarifvertrages 2018 greifen? Tillmann-Bramkamp: Wir registrieren im Moment in den Schichtbetrieben, dass die neuen tariflichen Möglichkeiten der Ar- beitszeit-Flexibilisierung stark angenom- men werden. Das stellt einige Betriebe vor organisatorische Herausforderungen und nicht jeder kann in der Einführungsphase alle Wünsche abbilden. Aber in den meisten Betrieben klappt es gut, auch weil das ein Motivationsfaktor ist. Stowasser: Wir stellen fest, dass in den Un- ternehmen verstärkt über nachhaltige Lö- sungen diskutiert wird, wie man Nacht- schichten und überhaupt Schichtarbeit spe- ziell an Wochenenden reduzieren kann. Verlagerung von Tätigkeiten von der Nacht- in die Tagschicht, Prozessoptimierung, Ro- botereinsatz – das sind alles Diskussions- punkte dazu. Hintergrund ist auch ein ge- wisser Wertewandel, der die Suche nach einem veränderten Gleichgewicht zwischen Arbeit und Freizeit befördert. Standpunkte: Können sich heute Teams und Gruppen innerhalb bestimmter Rah- menbedingungen im Betrieb hier nicht weitgehend selbst organisieren? Stowasser: Da gibt es Pilotprojekte, die aber weniger im klassischen Industriemi lieu, sondern in stark digitalisierten Berei- chen stattfinden. Entscheidend ist, dass Ar- beitsschutzgesetze eingehalten werden und keinWildwuchs entsteht, der denmodernen Erkenntnissen von Arbeitswissenschaft und Arbeitsmedizin widerspricht. Tillmann-Bramkamp: Schichtplanung per App funktioniert vielleicht in der Fern- montage, aber in Industriebetrieben in der Werkshalle eher nicht. Sonst setzen sich dann leicht die dominanteren gegen schwä- chere Kollegen durch, das können wir nicht wollen. Freiräume an der Basis sind wichtig, aber die Mitbestimmung zwischen Betriebs- rat und Geschäftsleitung ist als funktionie- rendes Regulativ an dieser Stelle schon eine gute Sache. Stowasser: Verlässlichkeit tut gut, aber es gibt auch die Notwendigkeit kurzfristiger Änderungen, auch im Schichtplan. Schnelle Entscheidungen unter den Betroffenen nach raschem Austausch mit modernen Kommu- nikationsmitteln müssen möglich sein. Standpunkte: Was werden die größten He- rausforderungen der Zukunft für Arbeits- zeitgestaltung imAllgemeinen und Schicht- arbeit im Besonderen? Stowasser: Der Wertewandel führt dazu, dass viele Unternehmen schon jetzt Proble- me haben, genug Nachtschichtarbeiter zu finden, gerade in den Ballungsräumen. Wir müssen uns mit den Unternehmen nochwei- ter in Flexibilisierungsinstrumente rein- denken, um die notwendige Schichtarbeit attraktiver und flexibler zu machen. Tillmann-Bramkamp: Mein Motto ist: Wir können noch besser, aber nicht billiger. Im Spitzenindustrieland Deutschland kön- nen wir Vorreiter sein, um die Wünsche nach mehr Flexibilität bei Mitarbeitern wie Unternehmern und die Anforderungen der Schichtarbeit in Einklang zu bringen. Standpunkte: Wir danken Ihnen für das Gespräch. Alexander Luckow der Kollegen. Meine Erfahrung ist: Je früher wir den Dialog so breit wie möglich im Be- trieb und auch darüber hinaus führen, umso leichter und erfolgreicher gelingt die Betei- ligung. Die glaubwürdige Einbeziehung muss in Entscheidungen über die Schicht- plangestaltung münden. Für Arbeitnehmer ist der Schichtplan existenziell, dem Arbeit- geber kann es egal sein, wer an der Maschine steht. Standpunkte: Wie sieht denn so ein bei- spielhafter Prozess aus, mit dem altgediente Rhythmen der Schichtarbeit flexibler und moderner organisiert werden können? Stowasser: In der Regel treten die Unter- nehmen an uns heran, weil Gesundheitssta- tistiken oder Mitarbeiterbefragungen oder Interventionen der Betriebsräte den Anstoß geben, etwas zu unternehmen. Im ersten Schritt ist es sehr wichtig, Transparenz zu schaffen bei allen Beteiligten, etwa durch Workshops. Wir versuchen klarzumachen, dass eine zeitgemäße Schichtplangestal- tung für alle Beteiligten besser ist, weil Ge- sundheit, Zufriedenheit, Leistungsbereit- schaft und Leistungsfähigkeit der Mitarbei- ter am Ende auch die Erfolgszahlen des Unternehmens entscheidend prägen. Sensi- bilisierung ist wichtig und vor allem der Er- fahrungsaustausch: Welche Auswirkungen hat welche Schichtgestaltung auf meine Fit- ness, meine Schlafqualität, mein Freizeit- verhalten, mein Umfeld? Und welche Anfor- derungen habe ich im Unternehmen an den Produktionsprozess, an Gruppengrößen oder die Auftragsabarbeitung, wie werden diese Anforderungen durch SystemX oder Y erfüllt oder nicht erfüllt? Wir müssen rich- tig rein in die Betriebsspezifik, um eine Pi- lotphase für ein neues Schichtsystem zu pla- nen, es einige Monate laufen zu lassen und dann nachzujustieren. Bis zu 95 Prozent der Beteiligten im Betrieb wollen dann beim neuen Status bleiben. Tillmann-Bramkamp: An uns treten im- mer wieder Betriebsräte heran und berich- ten, dass viele ältere Kollegen sich mit den eingefahrenen Schichtstrukturen belastet fühlen und krank werden, während die Jün- geren die Arbeitsbedingungen für das Mehr einkommen akzeptieren. Die Verlockung zur maximalen Ausnutzung der Maschinen- laufzeiten bis zu 7 Tage á 24 Stunden birgt auch Gefahren für die Unternehmen. Da muss man aufpassen, dass nicht alles bis zur letzten Stunde verplant wird, weil dem Un- ternehmen dann die Luft zum Atmen fehlt. Wer hier unvorsichtig wird, steht plötzlich am oberen Ende der Kapazitätsauslastung und kann Sondersituationen nicht mehr auf- Rund 6,5 Millionen Erwerbs- tätige in Deutschland arbei- teten zuletzt in Schichtarbeit, das entspricht einem Anteil von gut 15 Prozent. Foto: iStock, bluecinema Mit der fortschreitenden Digitalisierung entstehen neue Mög lichkeiten zur Prozessgestaltung und zum Produktivitätsmanage ment. Diese Möglichkeiten und ihre Auswirkungen auf die Arbeits gestaltung werden im Forschungsprojekt TransWork analysiert und bewertet. Als beteiligtes Forschungsinstitut führt das ifaa eine Onlinebefragung unter Unternehmensvertretern aller Wirt schaftsbereiche durch. Unternehmen sind aufgefordert, sich unter www.arbeitswissenschaft.net/befragung zu beteiligen. ifaa aktuell: Befragung zu digitalen Produk tivitätsstrategien startet 44 2/2019 Standpunkte NORDMETALL 45 2/2019 Standpunkte NORDMETALL
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